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Steinerne Nische mit reliefiertem Wasserbehälter und Schale



Steinerne Nische mit reliefiertem Wasserbehälter und Schale


Inventar Nr.: GK 915
Bezeichnung: Steinerne Nische mit reliefiertem Wasserbehälter und Schale
Künstler: Georg Hinz (um 1630 - 1688), Maler/in
Datierung: um 1665/1666
Geogr. Bezug:
Material / Technik: Öl
Maße: 119 x 93 cm (Bildmaß)


Katalogtext:
Der Maler Georg Hinz gilt als Hauptvertreter des Stilllebens im Hamburger Raum: Neben den vornehmlich bekannten Prunkstillleben und Kunstkammerregal-Bildern, die er aus niederländischen Vorbildern entwickelte, enthält sein Œuvre auch drei gemalte Darstellungen von Marmornischen, von denen sich zwei im Besitz der Kasseler Gemäldegalerie befinden: Die frühere, um 1665 entstandene Fassung zeigt eine rundbogige Wandnische aus rötlichem, weiß-geädertem Marmor mit Auffangbecken, an deren Rückwand ein alabasterfarbenes, halbrundes Wasserbehältnis montiert ist. Das reichverzierte und aufwendig gedrechselte Gefäß präsentiert mit dem zentralen Relief einen Kampf von Nereiden und Tritonen, den die Figur des Poseidon als Deckelbekrönung überwacht. Fischschuppenartige Ornamente und ein Muschelfries zieren die Haube des Behälters, dessen unteren Abschluss ein Pinienzapfen sowie eine männliche und zwei weibliche Büsten bilden, deren Brüste als Wasserspender dienen. Die Gestalt der Wandnische wiederholt sich in zwei Miniaturnischen, die in die seitlichen Wandstreifen eingelassen sind und deren Tiefe durch darin befindliche kleine Steinquader anzeigt wird.
Das rund 20 Jahre (1682) später entstandene Gemälde führt in einer grau-bläulichen Marmornische verschiedene Objekte aus den Prunk- und Mahlzeitenstillleben des Malers zu einem neuen Ensemble zusammen. Wie in dem Pendant befindet sich in der Mitte der Nische ein kostbarer, figürlich verzierter Elfenbeinpokal. Über der Basis mit Karyatide erhebt sich die Kuppa, auf deren Relief eine als Allegorie der Kunst oder Pictura gedeutete Sitzfigur das Reliefbild eines antikisierenden Herrscherporträts hält. Bekrönt wird das Gefäß von einer weiblichen Aktfigur mit raumgreifender Draperie auf einem Muschelsockel, die als Personifikation der Fortuna, der Occasio oder der Venus gedeutet wurde. Weitere Gegenstände sind um den Pokal versammelt: rechts und links ein Römer (Becher) und ein Bierglas, beide gefüllt, davor ein silberner Teller mit Birnen, ein Messer mit figürlichem Elfenbeingriff sowie Stücke einer weiteren Frucht, die im Vordergrund der Nische arrangiert sind. Jedes der genannten Dinge ist in seiner Materialität, Farbigkeit und Haptik detailliert und mit klarer Präzision erfasst. Im Kontrast mit den benachbarten Objekten tritt die charakteristische Beschaffenheit des einzelnen Gegenstandes – die Zartheit des durchscheinenden Glases vor dem schweren Marmor, die stumpfe, unregelmäßige Oberfläche der Birnen auf der glatten Spiegelfläche des Tellers – umso deutlicher hervor. Das von links einfallende Licht sorgt für einen sanften Übergang von Hell und Dunkel und für Schatteneffekte, die den Raum, die Plastizität der Objekte und deren räumliches Verhältnis zueinander definieren. Der Rand des Silbertellers, die aufgeschnittene Birnenhälfte und der Griff des Messers ragen über die Vorderkante der Nische hinaus, die sich somit nicht nur in die Tiefe, sondern scheinbar auch über die Bildgrenze hinaus in die Sphäre des Betrachters erstreckt.
Die geschaffene Raumillusion und die mimetische, lebensgroße Erscheinung der dargestellten Dinge weisen beide Gemälde als sog. Trompe-lʼŒils aus, die den Betrachter mit vollkommener Wirklichkeitsimitation zu täuschen und zu verblüffen suchen. Hinz widmete sich dieser Gattung vor allem bei seinen gemalten Kunstkammerregalen der 1660er-Jahre, zu welchen ihn vermutlich die Kunstkammerschränke Cornelis Gijsbrechts inspirierten. Von den beiden hier gezeigten Nischenbildern stellt das spätere aufgrund seiner größeren Plastizität und stofflichen Differenziertheit das überzeugendere wie auch ambitioniertere Werk dar.
Wandöffnungen stellten aufgrund ihres illusionistischen Potenzials ein beliebtes Motiv der Trompe-lʼŒil-Malerei dar. So imitiert Taddeo Gaddis realistisch gemalte Steinnische in der Baroncelli-Kapelle von Santa Croce in Florenz (1318–1330) tatsächliche Aufbewahrungsorte für liturgisches Gerät. Gemalte Wandnischen finden sich bereits in Interieurs niederländischer Andachtsbilder, bevor sie sich in unterschiedlichsten Stilllebentypen u. a. bei Roelant Savery oder Hinzʼ Frankfurter Kollege Georg Flegel als autonomes Motiv etablieren. Wandnischen mit Waschgeräten sind schon im 14. Jahrhundert u. a. in Verkündigungsszenen als Symbol der Reinheit anzutreffen. Eine zusätzliche Dimension erlangt die Illusion der Raumöffnung in den Nischen-Bildern Gerrit Dous, die sich als Türen öffnen ließen und dahinter den Blick auf ein weiteres Bild freigaben.
Als Ausweis höchster Kunstfertigkeit ist das Trompe-lʼŒil eine selbstreflexive Gattung. So bezeugen die Fliegen, die sich bei Hinz auf den Birnen und dem Bierglas niedergelassen haben, nicht nur den augenblickshaften Charakter der Darstellung, sondern auch einen etablierten Künstler-Topos, demzufolge der Maler Giotto seinen Lehrer Cimabue mit täuschend echt gemalten Fliegen in die Irre führte. Imitation und Illusionismus berühren auch ein weiteres zentrales Thema damaliger Kunstdebatten, den als Paragone bezeichneten Wettstreit zwischen den Gattungen Malerei und Skulptur: Indem Mauernische und Schnitzarbeiten auf Hinzʼ Gemälden vom realen Objekt nicht zu unterscheiden sind, demonstrieren sie die Überlegenheit der Malerei. In diesem Sinne wurde auch das Relief des Elfenbeinpokals als Vorherrschaft der Pictura über die Bildhauerkunst gedeutet. Eine andere Lesart sah mit Blick auf das antikisierende Relief die Dauerhaftigkeit der Kunst thematisiert, die den Herrscher unsterblich mache. Der Beständigkeit der Kunst steht der Verfall der irdischen Güter gegenüber. Das unaufhaltsame Verrinnen der Zeit wird neben den kurzlebigen Fliegen auch durch das brüchige Mauerwerk visualisiert und erinnert an die Flüchtigkeit der Dinge, die sich auch im Entlarven des Trompe-lʼŒil als gemaltes Trugbild der Realität spiegelt.
(J. Carrasco, 2015)


Inventare:
  • Catalogue des Tablaux. Kassel 1749, S. 13, Nr. 125.
Literatur:
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Versuch eines Verzeichnisses der kurfürstlich hessischen Gemälde-Sammlung. Kassel 1819, S. 92, Kat.Nr. 554.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Verzeichniß der Kurfürstlichen Gemählde-Sammlung. Cassel 1830, S. 109, Kat.Nr. 652.
  • Auszug aus dem Verzeichnisse der Kurfürstlichen Gemälde-Sammlung. Kassel 1845, S. 65, Kat.Nr. 652.
  • Parthey, Gustav: Deutscher Bildersaal. Verzeichnis der in Deutschland vorhandenen Ölbilder verstorbener Maler aller Schulen. Berlin 1863/64, S. 587 (Bd. 1), Kat.Nr. 1.
  • Peltzer, Rudolf Arthur: Georg Hinz (Haintz), der Pseudo-B. van der Meer. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst NF 11 (1934), S. XI-XVII, S. XVII.
  • Vogel, Hans: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. Kassel 1958, S. 67, Kat.Nr. 915.
  • Weber, Gregor J. M.: Stilleben alter Meister in der Kasseler Gemäldegalerie. Melsungen 1989, S. 15, 42, Kat.Nr. 42.
  • Schnackenburg, Bernhard: Gemäldegalerie Alte Meister Gesamtkatalog. Staatliche Museen Kassel. 2 Bde. Mainz 1996, S. 145.
  • Lange, Justus; Carrasco, Julia: Kunst und Illusion. Das Spiel mit dem Betrachter. Petersberg 2016, S. 118, 120, Kat.Nr. 37.


Letzte Aktualisierung: 02.06.2020



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