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Die Verspottung des Anakreon



Die Verspottung des Anakreon


Inventar Nr.: 1816/874
Bezeichnung: Die Verspottung des Anakreon
Künstler: Johann Heinrich d. Ä. Tischbein (1722 - 1789), Maler/in
Dargestellt: Anacreon (580 - 495 v. Chr.)
Datierung: 1754
Geogr. Bezug: Kassel
Material / Technik: Leinwand
Maße: 215 x 166 cm (Bildmaß)
Provenienz:

Auftragsarbeit des Landgrafen Wilhelm VIII.

1775 Gemäldegalerie

1814 Schloss Wilhelmshöhe

1821 Schloss Wabern

1827 Schloss Wilhelmshöhe

1829 Gemäldegalerie

1864 Schloss Bellevue

1911 Residenz

1955 aus Schloss Weilburg nach Wilhelmshöhe


Katalogtext:
Die Liebestollheit eines gestandenen Mannes, den eine Frau mit Amors Hilfe zum Narren hält, ist gemeinsames Thema der Pendantgemälde (vgl. 1816/872). In einem Hain, am Fuße einer Eiche, nähert sich der greise Dichter Anakreon (um 580-495 v. Chr.) mit einem gefüllten Weinkelch in der Linken begehrend einer jungen Frau. Die rechte Hand um ihre Schulter gelegt, beugt er sich zu ihr hinunter. Die verführerisch gekleidete Frau mit einem antikischen Gewand, das die linke Brust entblößt zeigt, wendet aber den Kopf ab. Die rechte Einhalt gebietend erhoben, weist sie den Galan mit der linken Hand zurück. Zwischen den beiden schwebt Amor, der eine Hand auf die Wange der Frau und die andere auf das kahle Haupt Anakreons gelegt hat. Zu Füßen des Paares sitzt ein Putto mit einer Feder in der Hand, dessen Geste den Eindruck vermittelt, als würde er darauf warten, etwas auf eine Schriftrolle niederzuschreiben. Auch das Mädchen mit der Leier zur Rechten der Figurengruppe spielt auf die Dichtkunst an. Das Relief mit dem Bacchantenzug und das Stillleben am rechten Bildrand verweisen hingegen auf die Genuss- und Trinksucht des Dichters Anakreon.
Wie das Liebespaar Herkules und Omphale sind auch hier die Figuren in den Bildvordergrund gerückt, wobei die sich hinter ihnen öffnende Landschaft mehr Tiefe suggeriert als die Architekturkulisse. Im Vergleich zu dem überwiegend in Braun-, Blau- und Weißtönen gehaltenen Gegenstück hat Tischbein hier mit kontrastreicheren Farben gearbeitet. Der Farbklang aus Rot, Weiß, Ockergelb und Blau bestimmt die beiden Hauptfiguren. Der leuchtendrote Mantel Anakreons setzt sich zudem komplementär von den Bäumen im Hintergrund ab.
Das Gemälde ist ebenso wie das Pendant im handschriftlichen Inventarium B von 1775 verzeichnet und dort unter dem Titel »Die Historie vom Anakreon« angeführt. In dem 1777 anonym veröffentlichten Aufsatz zu Tischbeins Historienbildern in der Zeitschrift »Deutsches Museum« und in Meusels »Teutschem Künstlerlexikon« ein Jahr später wird die weibliche Gestalt nur als »Mädchen« bezeichnet. Simon Causid gab dem Gemälde in seinem Katalog von 1783 den lange Zeit gebräuchlichen Titel »Anakreon und Sappho«.
Es gibt aber keine bildimmanenten Argumente dafür, die weibliche Figur als Sappho (um 600 v. Chr.) zu deuten, wenngleich der zu ihren Füßen sitzende Putto mit den Schreibgeräten durchaus zur Rolle der Dichterin passt. Anders als Anakreon hatte Sappho keine ikonographische Bildtradition, auf die Tischbein hätte zurückgreifen können. Anakreon hingegen, dessen Oden die Liebe, schöne Mädchen, den Tanz und den Wein besingen, wurde bereits in antiken Bildwerken und auch in Gemälden der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts wiederholt dargestellt, etwa im Werk von Antoine Coypel (1661-1722). Zumeist ist er als weinseliger und liebestrunkener Greis geschildert, ganz in der Art, wie er sich in seiner Dichtung selbst beschrieben hat.
Die Deutung der weiblichen Figur als Sappho dürfte von der zeitgenössischen deutschen Literatur angeregt worden sein, in der die beiden frühgriechischen Dichtergestalten, obwohl sie historisch nichts miteinander zu tun hatten, vielfach in Beziehung gesetzt wurden. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren zwei neue Übersetzungen von Anakreons Dichtung von Johann Friedrich Christ und Christoph Gottsched erschienen, 1746 und 1760 folgten zwei weitere Ausgaben von Johann Nikolaus Götz und Johann Peter Uz. Letztere publizierten auch zwei Oden der Sappho, in deren Dichtung sie Parallelen zu den heiteren Versen Anakreons sahen. Wenn auch die weibliche Gestalt ikonographisch uneindeutig bleibt und Causids Titel sich vermutlich aus der zeitgenössischen Literatur herleitet, darf man annehmen, dass der Titel nicht ohne die Billigung des Hofmalers publiziert worden ist.
(S. Heraeus, 2003)


Literatur:
  • Nachricht von den historischen Gemälden des fürstlich-hessenkasselischen Kabinattmalers, Herrn Johann Heinrich Tischbein. In: Deutsches Museum (1777), S. 362-372, S. 366, Kat.Nr. 4.
  • Meusel, Johann Georg: Teutsches Künstlerlexikon oder Verzeichnis der jetztlebenden teutschen Künstler. Lemgo 1778, S. 143.
  • Causid, Simon: Verzeichnis der Hochfürstlich-Heßischen Gemälde-Sammlung in Cassel. Kassel 1783, S. 11, Kat.Nr. 35.
  • Engelschall, Josef Friedrich: Johann Heinrich Tischbein d. Ä., ehemaliger Fürstlich-Hessischer Rath und Hofmaler, als Mensch und Künstler dargestellt, nebst einer Vorlesung von Casparson. Nürnberg 1797, S. 93, Kat.Nr. 4.
  • Apell, David von: Cassel in historisch-topographischer Hinsicht. Nebst einer Geschichte und Beschreibung von Wilhelmshöhe und seinen Anlagen. Marburg 1805, S. 272 (Teil 1).
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Versuch eines Verzeichnisses der kurfürstlich hessischen Gemälde-Sammlung. Kassel 1819, S. 119-120, Kat.Nr. 732.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Verzeichniß der Kurfürstlichen Gemählde-Sammlung. Cassel 1830, S. 141, Kat.Nr. 856.
  • Auszug aus dem Verzeichnisse der Kurfürstlichen Gemälde-Sammlung. Kassel 1845, S. 81, Kat.Nr. 856.
  • Parthey, Gustav: Deutscher Bildersaal. Verzeichnis der in Deutschland vorhandenen Ölbilder verstorbener Maler aller Schulen. Berlin 1863/64, S. 641 (Bd. 2), Kat.Nr. 25.
  • Bahlmann, Hermann: Johann Heinrich Tischbein. Straßburg 1911, S. 25, 73, Kat.Nr. 2.
  • Dowley, Francis H.: Anacreon and the Prince. In: The Register of the Museum of Art. The University of Kansas Lawrence (1961), S. 8-21, S. 8-21.
  • Marianne Heinz [Bearb.]; Erich Herzog [Bearb.+ Hrsg.]: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722 - 1789), Kassel trifft sich - Kassel erinnert sich in der Stadtsparkasse Kassel. Kassel 1989, S. 118, 167, Abbildung S. 77, Kat.Nr. 33.
  • Schulze, Sabine (Hg.): Goethe und die Kunst. Ausstellungskatalog. Schirn Kunsthalle Frankfurt a. M.; Kunstsammlungen zu Weimar. Ostfildern 1994, S. 233, Kat.Nr. 160.
  • Tiegel-Hertfelder, Petra: "Historie war sein Fach". Mythologie und Geschichte im Werk Johann Heinrich Tischbeins d. Ä. (1722-1789). Worms 1996, S. 90-100, 320, Kat.Nr. G 2.
  • Schloss Wilhelmshöhe Kassel. Antikensammlung, Gemäldegalerie Alte Meister, Graphische Sammlung. München/London/New York 2000, S. 95.
  • Heraeus, Stefanie [Bearb.]; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel [u.a.] 2003, S. 223-225, Kat.Nr. 195.
  • Staatliche Museen Kassel: 3 x Tischbein und die europäische Malerei um 1800. Kassel 2005, S. 74 f.
  • 3x Tischbein und die europäische Malerei um 1800. Kat. Staatliche Museen Kassel, Museum der bildenden Künste Leipzig. München 2005, S. 33, 72, 74, Abbildung S. 33, 75, Kat.Nr. 9.
  • Lange, Justus; Gräf, Holger Th.; Rehm, Stefanie: Patrimonia 391, Johann Heinrich Tischbein d. Ä., Bildnis des Louis Gaucher, Duc de Châtillon, Gemäldegalerie Alte Meister, Museumslandschaft Hessen Kassel. Kassel 2018, S. 65, Abbildung S. 65.
  • Scherz. Die heitere Seite der Aufklärung. Göttingen 2019, Abbildung S. 108, Kat.Nr. 37.


Letzte Aktualisierung: 02.08.2024



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