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Allegorie auf die Gründung der Kasseler Kunstakademie



Allegorie auf die Gründung der Kasseler Kunstakademie


Inventar Nr.: GK 941
Bezeichnung: Allegorie auf die Gründung der Kasseler Kunstakademie
Künstler: Johann Heinrich d. Ä. Tischbein (1722 - 1789), Maler/in
Datierung: um 1778
Geogr. Bezug: Kassel
Material / Technik: Leinwand, doubliert
Maße: 147 x 111 cm (Bildmaß)
157 x 121,5 x 7,5 cm ohne RSS (Objektmaß)
Provenienz:

1779 Kunstakademie


Katalogtext:
Zu dem allegorischen Gemälde, das Tischbein d. Ä. in einer kleinformatigen Ölskizze vorbereitete (GK 940), gab er eine ausführliche Erklärung ab: »Die Zeit eröffnet durch Aufziehung eines Vorhanges die glänzende Sonne der neugestifteten Maler- und Bildhauer Akademie. Zur Rechten steht Minerva und zeigt der Malerei und Bildhauerkunst das an einer Pyramide befindliche Bildnis des Durchlauchtigsten Stifters. Die beiden Künste umarmen sich schwesterlich und sind von ihren aufmerkenden Schülern begleitet. Zur Linken vertreibt der Genius Hessens die Unwissenheit und den gotischen Geschmack, und die Geschichte schreibt folgende Inschrift auf das Postament der Pyramide: ›Fridericus II. L. H./Academiae Pict: et Sculpt:/ Fundator/immortalis gloriae/MDCCLXXVIII.‹ Oben siehet man die Fama, welche die Stiftung der Akademie bekannt macht. Der Hintergrund des Gemäldes stellt einen Teil der am Paradeplatz stehenden Kolonnade vor.« Tischbeins Äußerung ist nur noch in der Sekundärliteratur überliefert (vgl. Knackfuß 1908, S. 37f.). Sie taucht nicht in den noch erhaltenen Akten der Akademie auf, die seit 1941 im Hessischen Staatsarchiv in Marburg verwahrt werden (StAM, Best. 160). Mit dem Motiv des Obelisken in der Mittelachse der Komposition, auf dem das Bildnismedaillon Landgraf Friedrichs II. wiedergegeben ist, lehnte sich Tischbein an den im Barock geläufigen Bildtypus des Fürstenlobs an, wie er vor allem in Dedikationsstichen und Titelkupfern verbreitet war. Ein Gemälde, das diesen Bildtypus veranschaulicht und mehrere Parallelen zu Tischbeins Darstellung aufweist, ist die »Allegorie auf das pfälzische Kurfürstenpaar als Mäzene« von Adriaen van der Werff (1659-1722) aus dem Jahr 1716 (Schleißheim, Staatsgalerie), die als Nachstich von C. Hep vorlag.
Die zentrale Anordnung des Obelisken in der Mittelachse vor einer Kolonnadenreihe bzw. in einem von Mauern eingefassten Innenhof sowie die Gruppierung der Figuren zur Linken und Rechten des Obelisken, ferner die Verteilung von Licht und Schatten in den beiden Bildhälften lässt vermuten, dass Tischbein van der Werffs Komposition bekannt war. Tischbein hatte sich an solchen höfischen Huldigungsbildern auch in seiner »Allegorie auf die glückliche Regierung des Landgrafen« (1875/1496) von 1764 orientiert, ebenso wie in der um 1755 gemalten Huldigung seines ersten Mäzens, der »Verherrlichung des Grafen Stadion mit dem Selbstbildnis des Künstlers« (Biberach a. d. Riß, Braith-Mali-Museum).
In den Sockel des Obelisken meißelt Historia die Widmungsinschrift ein, die mit Kreide auf den Stein vorgezeichnet ist. Die Jahreszahl »1778« bezieht sich nicht auf das Gründungsdatum der Akademie, auf den 18. Oktober 1777, sondern möglicherweise auf das Entstehungsjahr des Gemäldes. Indem Chronos, die Personifikation der Zeit, einen Vorhang zur Seite zieht, hinter dem die eigentliche Darstellung erst sichtbar wird, stellte Tischbein den Gründungsakt der Akademie und die damit einsetzende ›neue‹ Ära künstlerischen Schaffens in Kassel besonders heraus. Programmatisch formulierte er den Primat des klassischen Stils, der mit der Gründung der Akademie unmittelbar verbunden war und zentrales Thema des Huldigungsbildes ist. In der rechten Bildhälfte, vor dem Obelisken, posiert Minerva, die als Patronin der Künste und der Wissenschaft besonders gut die Kunstanschauung der Aufklärungszeit als Vereinigung von Kunst und Gelehrsamkeit veranschaulichte. Sie weist mit ihrem ausgestreckten rechten Arm die Personifikationen der Malerei und der Bildhauerkunst, hinter denen sich mehrere junge Schüler der Akademie drängen, auf das bekränzte Reliefbildnis des Stifters hin. Zu Füßen »Picturas« steht ein Putto, der ein allegorisches Gemälde mit der Glorifizierung von Malerei und Bildhauerei in den Händen hält. Zur Linken »Sculpturas« stellt ein Putto an prominenter Stelle – im unmittelbaren Vordergrund der unteren rechten Bildecke – dem Betrachter eine klassizistische Statuette Apollons vor, wie sie in der Akademie geschaffen werden sollte. Diese Statuette repräsentiert mit ihren idealen, an der Antike orientierten Proportionen den neuen klassischen Stil. Gegenstück zu ihr ist die farbig gefasste Frauenfigur mit der großen Krone und den Flügeln vor der Kolonnade am linken Bildrand.
Tischbein d. Ä. hat in diesem Gemälde als einer der ersten am Ende des 18. Jahrhunderts die zeitgenössischen Stilkämpfe in Szene gesetzt und dabei die Stile als tätige, handelnde Subjekte einander gegenübergestellt. Während die Apollonstatuette ebenso wie Minerva und die Personifikationen der Künste im Licht steht, verharrt die farbig gefasste Frauengestalt im Dunkeln. Ein Mann mit struppigem Haar und Eselsohren hält sie in den Händen. Neben diesem hockt eine zweite männliche Gestalt, die außer den Eselsohren auch noch eine Binde über dem rechten Auge hat. Sie hält eine Papierrolle in den Händen, die sie vor dem Bildnis des Landgrafen, auf das sie den Blick richtet, ausbreitet. Als Ausdruck des schlechten Geschmacks erscheinen auf der Papierrolle groteske Köpfe, von denen zwei der ersten Kupferstichtafel des 1753 in London publizierten, weit verbreiteten Traktats »The Analysis of Beauty« von William Hogarth (1697-1764) entnommen sind (Hogarth 1753, Tf. 1, Nr. 104f.). Die beiden Männer werden von einem Soldaten, der in seiner erhobenen rechten Hand ein Schwert hält und dessen Schild mit dem hessischen Löwen geschmückt ist, regelrecht aus dem Bild verjagt. Im Gegensatz zu den anderen Figurengruppen verkörpern sie den alten, überkommenen ›gotischen‹ Stil, der dem Kunstverständnis des aufgeklärten Landgrafen nicht mehr entsprach und mit der Gründung der Akademie endgültig vertrieben werden sollte.
Eselsohren waren seit der Renaissance ein weit verbreitetes Sinnbild für Unwissenheit, aber auch für schlechten Geschmack in künstlerischen Dingen. Das berühmteste antike »exemplum« ist König Midas, der Eselsohren erhielt, weil er sich bei einem musikalischen Wettstreit zwischen Apollon und Pan zugunsten des letzteren entschieden hatte. Cesare Ripa beschreibt die Unwissenheit – die »Ignoranza« – als einen nackten Knaben, der mit verbundenen Augen auf einem Esel reitet, dem Tier, das seit den Griechen als unbelehrbar und vernunftlos gelte. Auf Akademiedarstellungen sind häufig Unwissenheit, oft auch Neid und Spott als Widersacher der neu gegründeten Akademie dargestellt, deren junge Kunst durch Minerva, oder wie hier durch einen hessischen Soldaten, verteidigt wird.
Das Gemälde, das der Maler der Kasseler Akademie schenkte, war in der zweiten Akademieausstellung im März 1779 zu sehen: »Ihre größte Zierde war ein der Akademie von Herrn Rath Tischbein gegebenes allegorisches Gemälde auf ihre Stiftung«, so heißt es 1785 in einem Rückblick auf die Akademieausstellungen in den »Hessischen Beiträgen zur Gelehrsamkeit und Kunst«. Tischbein zitierte das Gemälde 1782 in seinem »Selbstbildnis im Alter« (1875/751), das er ebenfalls der Akademie vermachte. Dort ist die vorliegende Allegorie auf einer Staffelei skizziert, vor der der Maler als räsonierender Künstler posiert.
(S. Heraeus, 2003)


Literatur:
  • Nachricht von der Fürstl. Hessischen Akademie der Malerei-, Bilhauer- und Baukunst. In: Hessische Beiträge zur Gelehrsamkeit und Kunst 1 (1785), S, S. 401-403.
  • Engelschall, Josef Friedrich: Johann Heinrich Tischbein d. Ä., ehemaliger Fürstlich-Hessischer Rath und Hofmaler, als Mensch und Künstler dargestellt, nebst einer Vorlesung von Casparson. Nürnberg 1797, S. 49, 107, Kat.Nr. 88.
  • Knackfuß, Hermann: Deutsche Kunstgeschichte. Bielefeld/Leipzig 1888, S. 351 (Bd. 2).
  • Knackfuß, Hermann: Geschichte der Königlichen Kunstakademie zu Kassel. Aus den Akten der Akademie zusammengestellt. Kassel 1908, S. 37-39.
  • Bahlmann, Hermann: Johann Heinrich Tischbein. Straßburg 1911, S. 29.
  • Pückler-Limpurg, Siegfired Graf: Der Klassizismus in der deutschen Kunst. München 1929, S. 203.
  • Luthmer, Kurt: Die hessische Malerfamilie Tischbein. Verzeichnis ihrer Mitglieder und einer Auswahl ihrer Werke. Kassel 1934, S. 21, Kat.Nr. 77.
  • Schmitt, Otto [begonnen]: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Stuttgart/München 1937-1987, S. Sp. 1501-1505 -(Bd. 5, 1967).
  • Pigler, Andor: Neid und Unwissenheit als Widersacher der Kunst. In: Acta Historiae Artium Academiae Scientiarium Hungaricae I (1954), S. 215-235, S. 215-235.
  • Herzog, Erich [Bearb.]: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. 1722-1789. Kassel 1964, S. 12, Kat.Nr. 39.
  • Both, Wolf von; Vogel, Hans: Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel. Ein Fürst der Zopfzeit. o.O. 1973, S. 193.
  • Gaethgens, Barbara: Adriaen van der Werff 1659-1722. München 1987, S. 154, 261-263, Kat.Nr. 41.
  • Marianne Heinz [Bearb.]; Erich Herzog [Bearb.+ Hrsg.]: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722 - 1789), Kassel trifft sich - Kassel erinnert sich in der Stadtsparkasse Kassel. Kassel 1989, S. 173, Kat.Nr. 56.
  • Pfeiff, Ruprecht: Minerva in der Sphäre des Herrscherbildes. Von der Antike bis zur Französischen Revolution. Bonn 1990, S. 162.
  • Kintzinger, Marion: Chronos und Historia. Studien zur Titelblattikonographie historiografischer Werke vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1995, S. 59-65.
  • Heinz, Marianne: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722-1789), Hofmaler, Akademiedirektor und Lehrer der Malerfamilie Tischbein. In: Friedrich/Heinrich/Holm 2001 (2001), S. 47-56, S. 51.
  • Heraeus, Stefanie [Bearb.]; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel [u.a.] 2003, S. 263-266, Kat.Nr. 227.
  • 3x Tischbein und die europäische Malerei um 1800. Kat. Staatliche Museen Kassel, Museum der bildenden Künste Leipzig. München 2005, S. 30, 98, Kat.Nr. 21.
  • Linnebach, Andrea: Das Museum der Aufklärung und sein Publikum. Kunsthaus und Museum Fridericianum in Kassel im Kontext des historischen Besucherbuches (1769-1796). Kassel 2014, S. 204-205.
  • Jasbar, Gerald: Die Zeit malt den Tod. Ein Beitrag zur Ikonographie des Chronos im Barock. In: Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte, Kunst und Kultur, Bd. 60 (2017), S. 249-275, S. 264.
  • Lange, Justus; Gräf, Holger Th.; Rehm, Stefanie: Patrimonia 391, Johann Heinrich Tischbein d. Ä., Bildnis des Louis Gaucher, Duc de Châtillon, Gemäldegalerie Alte Meister, Museumslandschaft Hessen Kassel. Kassel 2018, S. 69.
  • Sitt, Martina: "Geeignet, junge Künstler zu belehren..." Die Anfänge der Kassler Kunstakademie (1777-1830). Hamburg 2018.
  • Winkler, Elisa: Die Personifikationen der drei bildenden Künste. Funktionalisierungen eines frühneuzeitlichen Bildpersonals. Berlin/Boston 2018, S. 150-151.
  • Mohl, Maximiliane: Das Museum Fridericianum in Kassel. Museumsarchitektur, Sammlungspräsentation und Bildungsprogramm im Zeitalter der Aufklärung. Hedidelberg 2020, S. 92.
  • Mävers, Sophie-Luise: Reformimpuls und Reglungswut. Die Kasseler Kunstakademie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Studie zur Künstlerausbildung im nationalen und internationalen Vergleich. Darmstadt/Marburg 2020.
  • Lange, Justus; Rotter, Malena: Tischbein im Kontext. Ausstattungsprogramme für die Landgrafen von Hessen-Kassel. Kassel 2023, S. 72-74.

Siehe auch:


  1. GK 940: Allegorie auf die Gründung der Kasseler Kunstakademie, Skizze


Letzte Aktualisierung: 19.03.2024



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