Obst- und Gemüsestillleben mit Marktfrau



Obst- und Gemüsestillleben mit Marktfrau


Inventar Nr.: GK 41
Bezeichnung: Obst- und Gemüsestillleben mit Marktfrau
Künstler: Joachim Beuckelaer (1533 - 1573/1574), Maler/in
Datierung: 1564
Geogr. Bezug:
Material / Technik: Öl
Maße: 114,8 x 170,5 cm (Bildmaß)
Provenienz:

erworben vor 1749 durch Wilhelm VIII.

Beschriftungen: Signatur: 1564


Katalogtext:
Eine Vielzahl saisonaler Obst- und Gemüsesorten wird dem Betrachter von einer Marktfrau vor bäuerlicher Landschaftskulisse feilgeboten: Präsentiert in geflochtenen Körben und Schalen und nach Sorten gruppiert, reihen sich die Güter zum einen entlang des unteren Bildrandes auf, zum anderen aufgetürmt an einer steilen Holzrampe, auf der die Waren dem Betrachter gleichsam entgegenzustürzen scheinen und die statische Szene mit kompositorischer Dynamik beleben. Dies, die Verlängerung der Rampe über die untere Bildbegrenzung hinaus und die perspektivische Verkürzung etlicher Objekte des Vordergrunds in Richtung des Betrachters rücken diesen hautnah an die bäuerlichen Produkte heran, die in ihrer mimetischen künstlerischen Wiedergabe zudem fast physisch greifbar erscheinen. Die vordringliche kompositorische Maßgabe, alle Waren bestmöglich sichtbar zu präsentieren, nimmt dabei auch gelegentliche statisch prekäre Konstruktionen, so zum Beispiel der hellen Gurke und des großen Weißkohls im Vordergrund, in Kauf, und vermag in deren Übermut den Eindruck der überbordenden Fülle sogar noch zu steigern.
Joachim Beuckelaer gehörte zu den Mitbegründern der Küchen- und Marktstücke, die um 1560 den Beginn der flämischen Stilllebenmalerei markierten. In Anlehnung an seinen Onkel und Lehrer Pieter Aertsen schuf er in seinen über 70 erhaltenen Gemälden auch zahlreiche Marktstillleben in der Art des hier gezeigten, die oftmals zusätzlich miniaturhafte religiöse Szenen im Hintergrund aufweisen. An die Marktszenen beider Künstler wurden mannigfache Interpretationsansätze herangetragen, deren Bogen von profanen Erwägungen bis zur gelehrten Antikenrezeption reicht: Der Reichtum der dargestellten Nahrungsmittel, auch Zeichen des damaligen agrarökonomischen Aufschwungs, mochte moralisierend zur Reflexion über die Vielfalt irdischer Genüsse und deren Vergänglichkeit anregen, vor deren Verschwendung warnen und zur Mäßigung mahnen. Die gedankliche Verbindung von kulinarischer und sexueller Ausschweifung ließ den gezeigten Überfluss auch als Warnung vor sinnlichem Exzess dienen, ergänzt durch die Topik der zügellosen Bauers- und Marktleute, die eine entsprechende erotische Auslegung bis in die Symbolik einzelner Bildmotive hinein erlaubte. In diesem Sinne wurde im Kasseler Bild etwa der Vogel in der Hand der Magd als Metapher des Beischlafs gedeutet.
Jenseits der grundsätzlichen, hier zu weit greifenden Diskussion zur inhaltlichen Dimension des Marktstilllebens kann an dessen visueller Imposanz kein Zweifel bestehen: In denkbar hoher naturalistischer Schärfe und Plastizität rücken im Kasseler Bild Objekte des alltäglichen Lebens in originaler Größe formatfüllend in den Fokus und erfahren im neuen Bildgenre eine bis dato ungekannte künstlerische Aufmerksamkeit, die für den damaligen Betrachter ebenso spektakulär wie sinnlich faszinierend gewesen sein dürfte. Das illusionistische Potenzial des Gemäldes beschränkt sich dabei nicht nur auf die vermeintliche Lebensechtheit der gezeigten Gegenstände und ihre frappierende künstlerische Wiedergabe. Es zeigt sich ebenso in der Fiktion einer Fülle von Naturalien, die aufgrund unterschiedlicher Reifezeiten realiter niemals gleichzeitig verfügbar waren, und einer Präsentation, die keiner realen Marktsituation entspricht, sondern in ihrem überbordenden Charakter andere inhaltliche Botschaften und visuelle Reize transportiert. Das Bild kreiert damit eine nur vermeintlich authentische, tatsächlich ausgesprochen selbstreferentielle Realität.
(J. Carrasco, 2015)


Inventare:
  • Catalogue des Tablaux. Kassel 1749, S. 35, Nr. 344.
Literatur:
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Versuch eines Verzeichnisses der kurfürstlich hessischen Gemälde-Sammlung. Kassel 1819, S. 12, Kat.Nr. 60.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Verzeichniß der Kurfürstlichen Gemählde-Sammlung. Cassel 1830, S. 16, Kat.Nr. 81.
  • Auszug aus dem Verzeichnisse der Kurfürstlichen Gemälde-Sammlung. Kassel 1845, S. 12, Kat.Nr. 81.
  • Sievers, Johannes: Pieter Aertsen. Ein Beitrag zur Geschichte der Niederländischen Kunst im XVI. Jahrhundert. Leipzig 1908, S. 117-118.
  • Sievers, Johannes: Joachim Bueckelaer. In: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen 32 (1911), S. 185-212, S. 199, 202-204.
  • Gronau, Georg: Katalog der Königlichen Gemäldegalerie zu Cassel. Berlin 1913, S. 7, Kat.Nr. 41.
  • Gronau, Georg; Luthmer, Kurt: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. 2. Aufl. Berlin 1929, S. 8, Kat.Nr. 41.
  • Luthmer, Kurt: Staatliche Gemäldegalerie zu Kassel. Kurzes Verzeichnis der Gemälde. 34. Aufl. Kassel 1934, S. 8, Kat.Nr. 41.
  • Voigt, Franz: Die Gemäldegalerie Kassel. Führer durch die Kasseler Galerie. Kassel 1938, S. 16, Kat.Nr. 41.
  • Greindl, Edith: Einge Stileigentümlichkeiten an den Werken des Pieter Aertsen und des Joachim Beuckelaer. In: Pantheon 30 (1942), S. 148-155, S. 155 Anm. 1.
  • Vogel, Hans: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. Kassel 1958, S. 39, Kat.Nr. 41.
  • Herzog, Erich: Die Gemäldegalerie der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel. Geschichte der Galerie von Georg Gronau und Erich Herzog. Hanau 1969, S. 80.
  • Lehmann, Jürgen M.; Verein der Freunde der Kasseler Kunstsammlungen, Kassel e. V. (Hrsg.): Gemäldegalerie Alte Meister. Schloß Wilhelmstal. Bildheft mit 100 Meisterwerken. Kassel 1975.
  • Moxey, Keith P. F.: Pieter Aertsen, Joachim Beuckelaer and the Rise of secular Painting in the Context of the Reformation. New York/London 1977, S. 94.
  • Lagemeyer, Gerhard [Hrsg.]; Peters, Hans-Albert [Hrsg.]: Stilleben in Europa. Ausstellungen Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster 25.11.1979 - 24.2.1980. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 15.3.1980 - 15.6.1980. Münster/Baden-Baden 1979, S. 269.
  • Adler, Wolfgang; Herzog, Erich; Lahusen, Friedrich; Lehmann, Jürgen M.: Gemäldegalerie Alte Meister Schloß Wilhelmshöhe. Braunschweig 1981, S. 36.
  • Schneider, Norbert: Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit. Köln 1989, S. 28.
  • Weber, Gregor J. M.: Stilleben alter Meister in der Kasseler Gemäldegalerie. Melsungen 1989, S. 17, Kat.Nr. 1.
  • Schnackenburg, Bernhard: Gemäldegalerie Alte Meister Gesamtkatalog. Staatliche Museen Kassel. 2 Bde. Mainz 1996, S. 61.
  • Am Anfang war der Apfel. Die Frucht in Malerei und Graphik des 20. Jahrhunderts. Heidelberg 2003, S. 20.
  • Mariie Niemantsverdriet/ Lena Mariiesdochter: De smaak van de middeleeuwen. Bourgondisch banquette voor beginners. Leiden 2014.
  • Lange, Justus; Carrasco, Julia: Kunst und Illusion. Das Spiel mit dem Betrachter. Petersberg 2016, S. 134, Kat.Nr. 44.
  • Trummer, Thomas D.: Bilder in der Pandemie. Bregenz 2020, S. 31f.


Letzte Aktualisierung: 05.12.2022



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