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Frau Schmidt-Capelle



Frau Schmidt-Capelle


Inventar Nr.: 1875/1544
Bezeichnung: Frau Schmidt-Capelle
Künstler: Johann Friedrich August Tischbein (1750 - 1812), Maler/in
Dargestellt: Frau Schmidt-Capelle (18. Jahrhundert)
Datierung: 1786
Geogr. Bezug:
Material / Technik: Leinwand, doubliert
Maße: 115 x 88 cm (Bildmaß)
Provenienz:

erworben 1972 von Christie's, Genf

Beschriftungen: Signatur: bez. Mitte l. (am Vasenpostament): F. Tischbein. 1786.


Katalogtext:
Mit einem schwarzen, spitzengesäumten Tuch über dem grauen Seidenkleid und einem voluminösen schwarzen Schleier auf dem Kopf hat sich die ältere Dame als Witwe porträtieren lassen. Auf den Tod des Gatten weist vor allem die auf dem Postament stehende antike Vase am linken Bildrand hin. Bei dem Gefäß, dessen Hals und Griff fehlen, handelt es sich um eine Lekythos, eine griechische Grabvase in Form eines Ölgefäßes, die seit dem späten 5. Jahrhundert v. Chr. als Grabdenkmal verwendet wurde. Ort, Tageszeit, Gesten und Attribute dienen in dem Porträt dazu, die Empfindungen der Dargestellten in ihrer Rolle als Witwe zu verbildlichen: die Abgeschiedenheit der Parklandschaft, die Sinnfälligkeit der Abendstimmung mit den rötlich gefärbten Wolken, die ruhenden Hände und das Buch als Zeichen der Versenkung und des Rückzugs aus der Welt.
Das Sujet der empfindsamen Leserin, die sich mit ihrer Lektüre in die freie Natur zurückzieht, verbindet Tischbein mit dem Thema der Trauernden. Die Ästhetisierung der Trauer, wie sie zunächst in der englischen Bildnismalerei aufkam, machte die Frau an der Urne zu einem beliebten Topos des empfindsamen Klassizismus. An diesem Thema wurde die Frage nach Tugend und Untugend behandelt, etwa in Darstellungen der trauernden Agrippina mit der Urne des Germanicus, der Andromache am Grab des Hektor oder der Kleopatra am Grab des Marcus Antonius. Im vorliegenden Porträt wird die Melancholie der Trauernden durch die Darstellung in der Natur noch gesteigert. Die gedeckten Farben der Kleidung, die sich kaum von den warmen Braungrüntönen der Parklandschaft absetzen, lassen die Witwe im Einklang mit der Natur erscheinen. Die Natur wird zum Ort der Andacht und der Kontemplation.
Die voluminöse schwarze Kopfbedeckung, die so genannte Fortune, und das schwarze Tuch, auch Fichu genannt, waren Teil der zeitgenössischen Trauerkleidung, ebenso die Farben Schwarz und Weiß. Ein ausführlicher Artikel zur preußischen Landestrauer findet sich etwa in der Novemberausgabe des Jahres 1786 des Weimarer »Journals der Moden«, das sich ab 1787 in das »Journal des Luxus und der Moden« umbenannte und bis Anfang des 19. Jahrhunderts die führende deutsche Modezeitschrift war. Dort ist detailliert beschrieben, welche Stoffe und Kopfbedeckungen sich als Trauerkleidung eignen und wie lange man diese – jeweils abhängig vom Verwandtschaftsgrad – zu tragen habe (Bd. 1, S. 400-405). Zu dem voluminösen Kopfschleier heißt es: »Dies ist ein sieben bis acht Ellen langer und 1 1/8 Elle breiter Streifen schwarzer Crepe. Er wird oben auf der schwarzen Crepe Haube und dann wieder auf der Hüfte befestigt« (S. 402f.). Die in der Zeitschrift abgebildete »Dame in der fortune« trägt eine ganz ähnliche Kopfbedeckung wie die Trauernde in Tischbeins Porträt. Diese Kopfbedeckung taucht auch in Tischbeins Porträt der Wilhelmina Hillegonda Schuyt auf, das um 1791/92 in Amsterdam entstanden sein dürfte.
Die Identifizierung des Porträts als »Frau Schmidt-Capelle« ist nicht belegt, sie stammt vom Auktionshaus Christie’s, von dem das Gemälde erworben wurde. Ebenso verhält es sich mit dem Porträt »Dr. Schmidt-Capelle« von Tischbeins Onkel, Johann Heinrich d. Ä. (1875/1602), das durch den Titel den Eindruck erweckt, als handele es sich um den Ehemann. Es ist aber gut möglich, dass die Porträtierten nichts miteinander zu tun haben. Das Bildnis der Witwe könnte auch während Tischbeins Aufenthalt in Den Haag entstanden sein, wohin er im Februar 1786 für mehrere Monate aufgebrochen war, und eine andere Person darstellen.
(S. Heraeus, 2003)


Literatur:
  • Bergmann, J.; Gercke, P.; Gercke, W.; Heise, E.; Kaiser, K.; Kirchvogel, P. A.; Lahusen, F.; Lehmann; Jürgen Michael; Naumann, J.; Oehler, L.; u.a: Museumsführer durch alle Abteilungen. Staatliche Kunstsammlungen Kassel. Kassel 1975, S. 39.
  • Herzog, Erich: Ein Freundschaftsbildnis von Friedrich August Tischbein. In: Aus hessischen Museen 1 (1975), S. 123-130, S. 123.
  • Tischbein, een reizend portrettist in Nederland. Utrecht 1987, S. 78, Kat.Nr. 86.
  • Franke, Martin: Johann Friedrich August Tischbein. Leben und Werk. Egelsbach u. a. 1993, Kat.Nr. 417 (Bd. 2).
  • Westhoff-Krummacher, Hildegard [Hrsg.]: "Als die Frauen noch sanft und engelsgleich waren". Die Sicht der Frauen in der Zeit der Aufklärung und des Biedermeier. Münster 1995, S. 372, Kat.Nr. 131.
  • Baumgärtel, Bettina [Bearb.]: Angelika Kauffmann. Ostfiledern-Ruit 1998, S. 415.
  • Heraeus, Stefanie [Bearb.]; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel [u.a.] 2003, S. 185-187, Kat.Nr. 163.
  • 3x Tischbein und die europäische Malerei um 1800. Kat. Staatliche Museen Kassel, Museum der bildenden Künste Leipzig. München 2005, S. 176, Kat.Nr. 54.


Letzte Aktualisierung: 21.03.2022



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