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Pyramus und Thisbe



Pyramus und Thisbe


Inventar Nr.: GK 757 (1875/1053)
Bezeichnung: Pyramus und Thisbe
Künstler: Johann August d. J. Nahl (1752 - 1825), Maler/in
Datierung: um 1788/1790
Geogr. Bezug: Rom
Material / Technik: Leinwand
Maße: 92,8 x 70,8 cm (Bildmaß)
Provenienz:

erworben 1881 auf der Nachlassauktion von Wilhelm Nahl

bis 1880 Wilhelm Nahl, Kassel

Beschriftungen:


Katalogtext:
Literarischer Stoff des Gemäldes ist die dramatische Erzählung von der unheilvollen Liebe des Babyloner Paares Pyramus und Thisbe, die von Ovid in den Metamorphosen (IV, 55-161) besungen wird und in Shakespeares »Sommernachtstraum« sowie in mehreren englischen Opern Anfang des 18. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurde. Wegen ihrer verfeindeten Eltern gezwungen, ihre Liebe geheim zu halten, beschlossen Pyramus und Thisbe, sich eines Nachts heimlich vor der Stadt zu treffen. Thisbe war zuerst an dem verabredeten Ort. Sie wurde jedoch von einer Löwin vertrieben und verlor dabei ihren Schleier. Diesen zerriss die Löwin mit ihrem vom letzten Fraß noch blutigen Maul. Als Pyramus kam und den blutgetränkten Schleier und die Fußstapfen des Tieres sah, wähnte er die Geliebte tot und stürzte sich unter einem Maulbeerbaum in sein Schwert.
Nahl stellt den tragischsten Moment der Geschichte dar und verlegt ihn unter eine knorrige Eiche: Die herbeieilende Thisbe entdeckt den sterbenden Pyramus, der mit der Linken seine verwundete Herzgegend bedeckt, während er in der Rechten das blutverschmierte Schwert hält. Thisbe ringt, vor Schmerz und Schreck erstarrt, die Hände. Innere Bewegtheit ist durch heftige äußere ausgedrückt, durch den stark aufgeblähten, hellvioletten Umhang mit dem wehenden, offenen langen Haar darunter und die flatternden Enden ihres hellen, grüngelblichen Gewandes. Die Figuren erhalten besonderes Gewicht innerhalb der Landschaftsszenerie durch den mächtigen dunklen Eichenstamm in der Mittelachse des Bildes, der sie schützend hinterfängt und vor dessen dunklem Grund sie sich durch die Lichtführung und Farbgebung hell abzeichnen. Das leuchtende Rot des Mantels, der den kraftlosen Körper des Pyramus zum Teil bedeckt, rückt ihn in den Mittelpunkt des Geschehens. Während sein Kopf im Schatten liegt, fällt ein helles Licht auf seine rechte Brust und die verwundete Herzgegend. Eine feine, präzise Umrisslinie grenzt die Figurengruppe von ihrer Umgebung ab. Selbst die reich gegliederten Falten des Stoffes ordnen sich als lebhafte Binnenzeichnung dieser klar geführten Umrisslinie unter.
Narrative Details aus Ovids Textvorlage hat Nahl mit der jagenden Löwin im Hintergrund und dem blutbefleckten transparenten Schleier zu Füßen des Pyramus wiedergegeben. Im Vergleich zur Ölskizze (1875/1286) hat er diese aber auf ein Minimum reduziert und statt dessen, gemäß den zeitgenössischen Forderungen an die Historienmalerei, die Empfindungen der Protagonisten ins Zentrum gerückt. Johann Georg Sulzer hatte in den 1770er Jahren in seiner »Allgemeinen Theorie der Schönen Künste«, ein Schlüsselwerk für die Ästhetik der deutschen Aufklärung, im Kapitel »Historie« gefordert: »Die Geschichte muß von dem Maler nicht historisch abgebildet werden, dafür sorgt der Geschichtsschreiber, er aber muß den Geist der Sache darstellen« (Bd. 2, S. 624). Und noch prägnanter: »Das Historienbild muß in dem empfindsamen Menschen Gedanken und Empfindungen erwecken, die in ihm wirksam werden« (ebd., S. 623).
Die wilde Natur, die Pyramus und Thisbe umgibt, mit dem steil abfallenden Hang und der schroffen Felswand auf der anderen Seite des Tals, wo vor dunklen Wolken ein einsames Gebäude zu sehen ist, unterstützt die Dramatik der Szene. Der heroische Stimmungscharakter in der Landschafts- und Figurenauffassung erinnert an die Malerei Johann Christian Reinharts (1761-1849), den Nahl während seines zweiten Romaufenthaltes kennen gelernt hatte.
Die naturalistische Darstellung der Landschaft deutet darauf hin, dass Nahl das Gemälde nach seinem mehrmonatigen Aufenthalt bei Jakob Philipp Hackert in Neapel 1786/87 geschaffen hat. »Wo«, wie er in einem der von Karl Wilhelm Justi zitierten Briefe schreibt, »besonders die schönen Arbeiten des berühmten Landschaftsmahlers, Herrn Hackert’s, so grossen Eindruck auf mich machten, dass ich nicht umhin konnte, auch einige Versuche im Landschaftszeichnen zu machen« (Justi 1796, S. 303). Die detaillierte Beschreibung der Vegetation und Beschaffenheit der Landschaft fällt auch im Pendantbild »Merkur und Diana« (1875/1054) auf.
(S. Heraeus, 2003)


Literatur:
  • Nahl d. J., Johann August: Biographische Skizze nach 1815, S. 14.
  • Justi, Karl Wilhelm: Wilhelm Böttner und Johann August Nahl. In: Meusel, Neue Miscellaneen (1796), S. 290-305, S. 304.
  • Nahl, Wilhelm: Biographische Skizze zu Johann August Nahl d. J. 1849, S. 3, Kat.Nr. 5.
  • Eisenmann, Oscar: Amtliche Berichte aus den königlichen Kunstsammlungen Cassel. In: Jahrbuch der Königlich preußischen Kunstsammlungen 2 (1881), S, S. Sp. XC-C.
  • Katalog einer Sammlung von Original-Gemälden etc. älterer und neuerer Meister aus der Hinterlassenschaft des in Cassel verstorbenen Herrn Joh. Wilh. Nahl. Kassel 1881, Kat.Nr. 87.
  • Hessische Blätter 13. 1881, Kat.Nr. 734.
  • Eisenmann, Oscar: Katalog der Königlichen Gemälde-Galerie zu Cassel. Nachtrag von C. A. von Drach. Kassel 1888, S. 402, Kat.Nr. 715.
  • Thieme, U. [Hrsg.]; Becker, F. [Hrsg.]; Vollmer, H. [Hrsg.]: Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Leipzig 1907-1950, S. 333 (Bd. 25, 1931).
  • Gronau, Georg: Katalog der Königlichen Gemäldegalerie zu Cassel. Berlin 1913, S. 43, Kat.Nr. 757.
  • Hamann, Richard: Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus. Leipzig 1925, S. 72.
  • Schmidt, Paul F.: Deutsche Kunst um 1800, Band 2: Bildnis und Komposition von Rokoko bis zu Cornelius. München 1928.
  • Nicolai, Ulrich: Drei Generationen der Künstlerfamilie Nahl. Gemälde und Handzeichnungen in Privatbesitz. In: Antiquitäten-Rundschau 26 (1928), S. 325-327, S. 326.
  • Gronau, Georg; Luthmer, Kurt: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. 2. Aufl. Berlin 1929, S. 51, Kat.Nr. 757.
  • Pückler-Limpurg, Siegfired Graf: Der Klassizismus in der deutschen Kunst. München 1929, S. 204.
  • Boetticher, Friedrich von: Malerwerke des 19. Jahrhunderts. Leipzig 1941, S. 123 (Bd. 2/1), Kat.Nr. 4.
  • Vom Rokoko zur Romantik. Kassel 1946, Kat.Nr. 55.
  • Vogel, Hans: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. Kassel 1958, S. 98, Kat.Nr. 757.
  • Deutsche Maler des 18. und 19. Jahrhunderts. Kassel 1958, Kat.Nr. 12.
  • Il Settecento a Roma. Rom 1959, Kat.Nr. 393.
  • Schmitt-von Mühlenfels, Franz: Pyramus und Thisbe. Rezeptionstypen eines ovidischen Stoffes in Literatur, Kunst und Musik. Heidelberg 1972, S. 142-152.
  • Kaiser, Konrad: Ein Gang durch Kassels Neue Galerie, Teil 1. Kassel 1976, S. 7.
  • Marianne Heinz [Bearb.]; Erich Herzog [Bearb.+ Hrsg.]: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722 - 1789), Kassel trifft sich - Kassel erinnert sich in der Stadtsparkasse Kassel. Kassel 1989, S. 149.
  • Sabine Fett und Michaela Kalusok: Die Künstlerfamilie Nahl - Rokoko und Klassizismus in Kassel. Verzeichnis sämtlicher Werke von Johann August Nahl d. Ä., Johann Samuel Nahl d. J. und Johann August Nahl d. J. im Besitz der Staatlichen Museen Kassel. Kassel 1994, S. 70, 120, Kat.Nr. 77.1167.1-167.3.
  • Heraeus, Stefanie [Bearb.]; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel [u.a.] 2003, S. 128-129, Kat.Nr. 106.

Siehe auch:


  1. 1875/1286: Pyramus und Thisbe, Skizze


Letzte Aktualisierung: 12.01.2022



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